Nicht nur wenn die Sonne scheint
Ein rührend kämpferischer Künstler: Der Brasilianer Diego führt Bremen erneut in die Champions League
München - Eine rote Karte war das Mindeste, was man von ihm erwarten konnte. Zur Not, aber wirklich nur zur Not hätte es auch eine solide Frustgrätsche getan, eine, die vielleicht nur gelb wert ist. Hinterher hätte der Spieler dann aber mindestens die Aussage verweigern und schmollend auf einen seiner Berater verweisen müssen. Der hätte dann gesagt, dass sein Spieler unmöglich bei diesem Klub bleiben könne, das sei unter seiner Würde, und überhaupt, Real Madrid habe auch schon angefragt. Vielleicht hätte dann am nächsten Tag eine Zeitung einen anderen Berater aufgefahren, der Einigkeit mit Chelsea vermeldet, worauf ein dritter Berater plötzlich einen Wechsel zum FC Bayern androht.
Ist es nicht das, was man von einem brasilianischen Künstler erwarten darf? Steht es nicht im Kleingedruckten der Artistenverträge, dass so einer gefälligst eine Diva zu sein hat? Aber nein, es ist alles so langweilig mit diesem Diego. Dieser Diego ist zweifelsfrei ein Brasilianer und zweifelsfrei ein Künstler, aber er trägt ja nicht mal ein Haarband. Kein Spiel ist unter seiner Würde, nicht mal ein Spiel wie das am Wochenende in Nürnberg, in dem jeder anständige Brasilianer einen Tobsuchtsanfall erlitten hätte. Einen Pass nach dem anderen hat er nach vorn gejagt, ein Pass nach dem anderen ist grußlos zurückgekommen. Die anderen Spieler waren, nun ja, also sie waren, ähem . . . sie waren, um die Wahrheit zu sagen, einfach nicht gut genug für ihn. Diego würde so etwas natürlich niemals sagen.
In den vergangenen Tagen hat die Liga einen Spieler neu entdeckt, den sie fast schon vergessen hatte. Diego hatte keine Chance mehr gegen den Liganeuling Franck Ribéry, dessen Tricks so genüsslich seziert wurden wie vor einem Jahr die Tricks des Liganeulings Diego. Aber wie schon am Samstag in Nürnberg, so hat sich Diego erst recht am Mittwochabend, beim 3:2 in der Champions-League-Qualifikation bei Dinamo Zagreb, sein Recht auf Anerkennung zurückerkämpft - mit einer Qualität, von der noch nicht bewiesen ist, ob Ribéry sie auch in diesem Maße hat. Diego kann von Glück sagen, dass er Brasilianer ist, sonst würde er bald von jenem Wortungetüm bedroht, das der Deutsche für seinesgleichen gern in Stellung bringt. Er wäre bald ein Führungsspieler.
Unbestätigten Gerüchten zufolge sind die Bremer auch in Zagreb zu elft gewesen, aber in die Champions League gebracht hat sie Diego fast allein. Es war vor allem sein Verdienst, dass Werder nun jene rund 15 Millionen sicher hat, auf die eine Champions-League-Teilnahme hochgerechnet wird. Das erste und das dritte Tor hat er per Elfmeter selbst geschossen, das zweite hat er per Steilpass in Auftrag gegeben, aber die neue Dimension seines Spiels ist, dass er inzwischen viel mehr sein kann als nur der Brasilianer. "Diego ist keiner, der nur Fußball spielt, wenn die Sonne scheint", sagt Werders Sportchef Klaus Allofs. "Er übernimmt Verantwortung und ist ein hochprofessioneller Arbeiter, der trotz seiner kurzen Saisonvorbereitung schon in gutem Zustand ist." Diego kann immer noch jeden Trick, den ein Gaukler können muss, aber unter dem Druck der dramatischen Bremer Personalnot hat er sein Spiel vervollständigt. Er hat gespielt, als sei er außer Diego auch noch Borowski und Frings. Er hat jedem Winkel des Platzes einen Besuch abgestattet, für einen Techniker seiner Veranlagung war es ein geradezu rührend kämpferisches Spiel. "Für uns sind das keine neuen Erkenntnisse", sagt Allofs zwar. Dass dieser Diego im Alter von 22 Jahren aber eine ganze Mannschaft vitalisieren und ziehen kann, diese Dimension hat sie in Bremen doch überrascht. "Diego gebe ich gerne den Ball", hat der Däne Daniel Jensen nach dem Zagreb-Spiel gesagt.
In wenigen Tagen hat Diego Monate aufgeholt. In der Mannschaftsstruktur ist er jetzt da angekommen, wo er schon seit längerem hingehört. Die Kollegen vertrauen ihm, weil sie wissen, dass er mehr kann als sie, dass er aber trotzdem nicht weniger kämpft. "Sein Standing im Team hat sich weiter verbessert", sagt Allofs, "die überzeugendste Art, Akzeptanz zu gewinnen, ist eben immer noch, wenn man mithilft, Spiele zu gewinnen." Allofs weiß ja am besten, gegen welche Widerstände sein Künstler anzukämpfen hatte. Er war der Nachfolger vom vergötterten Johan Micoud, dessen erhabenes Direktspiel er nicht hat und auch nicht haben will. Anfangs haben ihm argwöhnische Mitspieler noch vorgeworfen, er würde den Ball zu lange führen, sie haben nicht verstanden, dass Diego die Fortsetzung des großen Micoud in die Moderne ist.
Wie es sich für einen großen Spieler gehört, so hat es Diego schon jetzt geschafft, die Vereinspolitik seines Arbeitgebers zu prägen. Er hat Werder die vierte Champions-League-Teilnahme in Serie beschert, was den Verantwortlichen erst mal ein paar unangenehme Fragen erspart. Von auffallend vielen Kandidaten haben die für ihre Pfiffigkeit gerühmten Bremer Personalplaner zuletzt Körbe kassiert, von Schlaudraff, Carew oder Baros, und die berühmte Nische wird auch immer kleiner, je größer der Klub wird. "Wir bewegen uns jetzt in anderen Sphären", sagt Allofs, "die Ansprüche steigen, und wir brauchen immer bessere Spieler." Spieler, die einen Champions-League-Klub verstärken, wachsen eher nicht in Nischen, aber gleichzeitig wollen sich die Bremer auch nicht vom Markt unter Druck setzen lassen. Sie wollen sich von der Öffentlichkeit keine VIP-Transfers aufzwingen lassen. "Wir werden auch jetzt nicht für die Galerie einkaufen", sagt Allofs.
Vielleicht wird sich Diegos größte vereinspolitische Leistung erst in einem Jahr ermessen lassen. Trotz eines Vertrags bis 2010 galt sein Abschied zum Saisonende ja als zumindest nicht unwahrscheinlich - "aber wenn man dauerhaft Champions League spielt", so Allofs, "ist es leichter, die Spieler zu überzeugen, bei uns zu bleiben." Vielleicht hat Diego in Zagreb also dazu beigetragen, dass Diego noch länger in Bremen spielt. Christof Kneer
(Süddeutsche Zeitung vom 31. August 2007, Seite 34)