Werder Bremen 2007/2008

Kaninchen im Schneckentempo

Ein grotesk miserables Spiel zwischen dem 1. FC Nürnberg und Werder Bremen findet in den Norddeutschen skandalöserweise einen Sieger.

VON CHRISTOPH RUF

Ein jämmerliches Gekrieche - die zweite Garde auf dem Platz. Foto: dpa

NÜRNBERG taz Wenn Kaninchen auf eine Schlange treffen, strecken sie die Waffen und stellen das Hoppeln ein. Sagt man zumindest so. Wer weder Mümmelmänner im Garten hat, noch einen Garten, und schon gar keine freilaufende Kobra zur Hand, wird das nie überprüfen können. Fußballerisch gesehen ist die Schlange-Kaninchen-Konstellation jedenfalls nicht die allerschlechteste, wahrscheinlich wird sie deshalb so oft von Sportjournalisten bemüht. Denn dabei fallen meist jede Menge Tore. Denn wenn sich Kaninchen gegenseitig paralysieren, ist das ein Schauspiel, das nur schwer 90 Minuten zu ertragen ist. In Nürnberg hatten 45.200 Zeitzeugen dafür auch noch einen sonnigen Nachmittag geopfert.

Schon in den ersten fünf Minuten spielten sich Per Mertesacker und Naldo in der Bremer Innenverteidigung so geriatrisch die Bälle hin und her, dass man das nur mit viel Wohlwollen als taktische Finte interpretieren konnte: Wahrscheinlich wollte da jemand den Gegner aus der Reserve locken. Doch der fand es in der Reserve ganz komfortabel und dachte nicht im Traum daran, so etwas wie Forechecking zu betreiben. Stattdessen beschattete Peer Kluge Bremens Spielmacher Diego taktisch so flexibel wie ein Magnet, Thomas Galasek interpretierte die 6-er-Position rein defensiv und Marek Mintal verkrümelte sich - wie mit fortschreitender Spielzeit die Mehrzahl seiner Teamkollegen. Kurzum: Ein Mittelfeldspiel fand nicht statt. Und vorne stand Joshua Kennedy, der lange, sehr lange verletzt war.

Umgekehrt bestätigte Werder Bremen den Anfangsverdacht jedes halbwegs Fußballinteressierten: Bayern München wird alleine deshalb einen souveränen Parcours zur Meisterschaft hinlegen, weil bei den ernst zu nehmenden Rivalen die Zweite Reihe eben wirklich die Zweite Reihe ist. Und genau die spielte in Nürnberg. Besser gesagt: Sie stand auf dem Platz. Beim Spiel des aktuellen Pokalsiegers gegen den Tabellendritten vom Vorjahr war alles in allem kein einziger gelungener Spielzug zu sehen. Die Bälle flogen hoch und weit, doch das Spieltempo blieb im Bereich eines durchschnittlichen Vorbereitungsspiels. Man kickte. Und nirgendwo rushte es.

Doch irgendwann hatte ein gnädiges Schicksal den Uhrzeiger auf die 61. Minute gestellt. Ein junger Mann namens Martin Harnik betrat die Bühne. Und legte acht Minuten später den einzigen Auftritt des Nachmittags hin. Ballannahme, Schuss ins kurze Eck. 0:1 (69.). Das Spiel war entschieden. Und der Schütze sah sich plötzlich Reportern gegenüber, die allen Ernstes von ihm wissen wollten, warum er nicht auch noch eine zweite Chance verwertet habe: "Oh je, das geht aber schnell", antwortete der Jungspund irritiert, er fühle sich "im Kopf noch ziemlich leer".

Man kann davon ausgehen, dass Harnik das mit dem leeren Kopf in ein paar Jahren nicht mehr sagen wird. Als Profifußballer entwickelt man in kürzester Zeit Techniken, um klare Aussagen zu umgehen. Deshalb sagte Mertesacker, der nicht nur wohl erzogen aussieht, auch "völlig egal" statt "scheißegal", als er gefragt wurde, wie er die Leistung seines Teams denn so einstufe, "es war jedenfalls wichtig, dass wir gewonnen haben." Doch kurz darauf blickte Mertesacker wie jemand drein, der am liebsten allen umstehenden Journalisten sofort stellvertretend für Ihre Branche den Stinkefinger ins Gesicht strecken wollte. Was er sagte, war sozialverträglicher: "Wir wollten uns frei machen von all dem Krisen-Gerede." Befreiend fand den Sieg auch Trainer Thomas Schaaf. Er hatte ein Spiel gesehen, "das sicher nicht hochklassig war, aber das konnte man in unserer Situation auch nicht erwarten."

In der Tat hatten die Bremer gleich acht Gründe für ihren Pragmatismus auf ihrer Seite: Womé, Klasnic, Hunt, Frings, Borowski, Carlos, Fritz und Owomoyela. Denn sie alle fehlten in Nürnberg. Und so hatte wenigstens eines der beteiligten Teams ein Argument für ein unsägliches Spiel, das in einem veritablen Skandal gipfelte: Dem, dass es nicht 0:0 endete.

"Schönste Woche meines Lebens"

Martin Harnik schreibt weiter an seiner Erfolgsgeschichte
Von Carsten Sander

BREMEN Als es passiert war, breitete Martin Harnik die Arme aus, als wolle er die Welt umarmen. Sein Gesicht ein Gemälde des Staunens, pointiert mit zwei Augen, aus denen die Fassungslosigkeit strahlte. "Ich konnte es überhaupt nicht glauben", sagte Martin Harnik später: "Ich wusste gar nicht, wohin ich laufen sollte." Dieses Probem lösten freilich die Kollegen von Werder Bremen. Sie fingen Harnik nach dessen Tor zum 1:0 gegen den 1. FC Nürnberg schnell ein und jubelten mit dem neuen Shootingstar.

Am vergangenen Mittwoch hatte der 20-Jährige in seinem ersten A-Länderspiel für Österreich (1:1 gegen Tschechien) als Joker getroffen, am Samstag setzte er bei seiner Bundesliga-Premiere mit dem enorm wichtigen Siegtor in Nürnberg noch einen drauf - wieder als Einwechselspieler. Logisch, dass er sich nun wie im Fußball-Paradies fühlt. "Das war die schönste Woche meines Lebens", juchzt Harnik.

Die Folgen seiner ruhmreichen Taten waren allerdings nicht nur angenehm. Der am Mittwoch entfachte Trubel nahm am Wochenende noch mal an Intensität zu. Das Handy klingelte in einer Tour, circa 40 SMS gingen bei Martin Harnik ein. "Von Freunden, Verwandten und Unbekannten", meint Harnik und schmunzelt: "Ich hatte ja keine Ahnung, wer noch alles meine Nummer hat."

Eines ist sicher: Beim Deutschen Fußball-Bund, Abteilung Nachwuchsfußball, war und ist die Nummer nicht bekannt. Obwohl Martin Harnik in Hamburg aufgewachsen ist, bis 2005

"Österreich eine Herzenssache"

noch beim SC Vier- und Marschlande in der A-Junioren-Regionalliga spielte, haben sich die DFB-Scouts nie um den Sohn eines Österreichers und einer Deutschen bemüht. Wohl aber die Kollegen vom ÖFB. Harnik erzählt, wie es dazu kam: "Mein Vater hat sich als Mitorganisator eines Hallenturniers zu seinem 50. Geburtstag Austria Wien als Teilnehmer gegönnt. Die haben mich spielen sehen, natürlich mitgekriegt, dass mein Vater Österreicher ist, und sofort an den ÖFB gemeldet, dass da einer ist, den man mal ausprobieren könnte."

Gesagt, getan. Dem jungen Kicker des kleinen SC Vier- und Marschlande flatterte eine Einladung zu einem Lehrgang der Jugend-Nationalmannschaft ins Haus. "Da gab’s für mich nichts zu überlegen. Das war so eine große Ehre für mich, dass ich an den DFB gar nicht gedacht habe", erklärt Harnik.

Mit Österreich spielte er in diesem Sommer eine erfolgreiche U 20-WM in Kanada, gab nun seinen Einstand im A-Nationalteam und ist damit für den DFB verloren. Ein Verbandswechsel ist laut Statuten nicht mehr möglich, wäre für Harnik aber auch nicht in Frage gekommen: "Ich fühle mich wohl beim ÖFB, meine Entscheidung ist definitiv. Österreich ist eine Herzenssache."

Werder war es zu Anfang nicht unbedingt. Schließlich war auch der Hamburger SV um ihn bemüht. Doch die Bremer hatten die besseren Argumente und planen nun sogar mit Harnik für das Champions-League-Qualifikationsspiel bei Dinamo Zagreb am Mittwoch. "Warum auch nicht?", fragt Bremens Sportdirektor Klaus Allofs: "Martin macht nicht den Eindruck, als ob er Angst hätte vor einer solchen Aufgabe."

Erfolgsgarant Schaaf 35 Jahre in Werder-Diensten

Der einzige «Fehltritt» von Werder Trainer Thomas Schaaf in der Saison 2003/04, als Werder neben dem Titel auch noch den Pokal gewann, ereignete sich bei der Landung des frisch gekürten deutschen Fußball-Meister Werder Bremen 2004 auf dem Flughafen der Hansestadt.

Schaaf passierte ein Missgeschick: Die Aufnahmen, die er vom Cockpit des Meisterjets aus mit einer Digitalkamera filmte, waren praktisch wertlos. «Es war fast nur Beton zu sehen», gestand der Trainer und bekannte: «Ich bin eben kein Kameramann.» Typisch Schaaf: Klare Ansage ohne viele Worte - häufig versehen mit einem Schuss trockenen Humors.

Das zeichnet das öffentliche Bild von dem geschätzten Fußball-Lehrer, der mittlerweile längst zu Werder gehört wie die Stadtmusikanten zu Bremen: Vereinseintritt am 1. Juli 1972, Profi-Debüt mit 17, danach 262 Bundesliga-Spiele, jeweils zwei Meistertitel und Pokalsiege sowie als Sahnehäubchen der Europapokal der Pokalsieger 1992. Es gibt nicht viele Kicker, die eine solche sportliche Vita aufzuweisen haben. «Ich fühle mich sehr wohl hier», sagt Schaaf. Wen wundert's - nicht nur aus sportlicher Sicht.

Die großen Schlagzeilen machte der gebürtige Mannheimer allerdings erst seit dem 10. Mai 1999, als er das Traineramt übernahm, dem abstiegsbedrohten Traditionsverein zunächst die erste Liga erhielt und mit ihm dann auch noch den DFB-Pokal gewann. Damit waren die ersten Zeilen eines neuen Erfolgskapitels Bremer Fußball-Geschichte geschrieben. Auch und vor allem dank Schaaf, der mittlerweile der dienstälteste Trainer in der so schnelllebigen Bundesliga ist.

Die Zeiten haben sich geändert, seit Schaaf das Sagen hat. «Damals gab es für die Profis weniger Dinge neben dem Fußball. Ihr Stellenwert heute ist viel größer und nicht immer gerechtfertigt», findet der Familienmensch. Auch er musste sich wandeln. Eine Maxime aber ist geblieben, die wohl ein Stück von Schaafs Erfolgsrezept ist: «Jeder in unserem Team ist wichtig.»

Das hat der exzentrische Ailton gefühlt, als er seinen steinigen Weg zum gefeierten Torschützenkönig 2004 durchmachte. Das durfte der sensible Miroslav Klose erfahren, der nahtlos in Ailtons Fußstapfen trat. Und das erlebt momentan Boubacar Sanogo, der bei seiner Ankunft im sonst so respektvollen Bremen nicht nur freundliche Töne zu hören bekam. Schaaf schützte ihn nachhaltig und mit Erfolg. «Der Trainer hat sehr viel mit mir geredet. Das hat mir sehr geholfen», sagte Sanogo, der in Hamburg verloren gegangene Torjäger-Qualitäten in Bremen offenbar wiederentdeckt hat.

Das Gütesiegel Schaaf hat andernorts längst Begehrlichkeiten geweckt. Werder weiß das und will Tatsachen schaffen. Der neue Vertrag für den 46-Jährigen, der momentan bis zum Saisonende 2007/2008 in Bremer Pflicht steht, ist laut Clubchef Jürgen L. Born «schon ziemlich weit». Einige Medien schossen bereits übers Ziel hinaus und meldeten Vollzug. Reaktion von Schaaf: «Kein Kommentar.» Soll wohl heißen: Wir sagen schon Bescheid, wenn es soweit ist.